Vor einigen Wochen schrieb mir eine Leserin:

“Ich habe momentan oft noch Probleme, eigene Lösungsansätze zu finden [und] mir eine feste Meinung zu bilden.”

Ich denke, diese Probleme können viele Doktorand*innen nachvollziehen. Es geht hier um den Kern der wissenschaftlichen Arbeit und den kreativen Prozess, der zugleich unheimlich wichtig und sehr individuell ist. Das heißt zwar, das hier jede*r in ganz besonderem Maße den eigenen Weg finden muss, ich möchte dennoch ein paar Tipps und Gedanken teilen, die mir geholfen haben.

Tipp 1: Weg mit dem Druck!

Schon im Studium hört man oft, dass sich eine Doktorarbeit von einer Seminararbeit oder ähnlichen Studienarbeiten neben der Länge und dem Umfang des Themas vor allem dadurch unterscheidet, dass in einer Doktorarbeit etwas “Neues” entstehen muss. Das kann einen gewissen Druck erzeugen. Am Anfang geht man vielleicht noch ganz optimistisch und selbstbewusst heran, aber gerade bei Themen, zu denen es schon einige Arbeiten gibt, kommt für viele sicherlich irgendwann der Punkt, an dem sie sich fragen, in welcher Hinsicht sie noch innovativ sein können. Der Druck, unbedingt etwas Neues finden zu müssen, kann sehr kreativitätshemmend und damit kontraproduktiv sein.

Innovation bedeutet in der Rechtswissenschaft nicht zwingend, eine völlig neue Lösung zu präsentieren. Innovation kann auch aus einem neuen Blickwinkel auf ein Thema entstehen, aus neuen Argumenten, aus der Einbeziehung und kritischen Würdigung neuer Rechtsprechung, aus dem Vergleich mit anderen Rechtsgebieten oder Rechtsordnungen. Natürlich ist es fantastisch, wenn daraus auch eine neue Lösung für das Problem entsteht. Aber zwingend ist das nicht. Also weg mit dem Druck!

Tipp 2: Auf die hinter dem Problem liegenden Wertungen schauen

Für meine eigene Dissertation war es unheimlich hilfreich, mir vor Augen zu führen, welche Wertungen eigentlich hinter dem Problem und seinen Lösungsansätzen liegen. Bei meiner Doktorarbeit hat das sogar dazu geführt, dass ein großer Teil der Arbeit in der Analyse der Prinzipien des Rechtsgebiets besteht. Aber auch, wenn man so weit nicht gehen kann oder möchte, ist es hilfreich, sich vor Augen zu führen, welches eigentlich die Wertungen sind, die zu dem Problem führen. Rechtsprobleme entstehen so gut wie immer aus widerstreitenden Interessen. Diese Interessen ganz konkret herauszuarbeiten und zu bewerten, schärft den Blick und kann eine Lösungsfindung erleichtern.

Tipp 3: Bisherige Lösungen als Quelle der Kreativität

Dass man sich für die Entwicklung eines eigenen Standpunkts mit den schon vertretenen Lösungen auseinandersetzen muss, ist eine Binsenweisheit. Zugleich kann die tiefgehende Analyse bisheriger Ansätze eine Quelle für Kreativität sein, wenn man sich Fragen wie diese stellt:

  • Welche Probleme bereiten die vertretenen Lösungen ganz konkret?
  • An welchen Stellen oder in welchen Konstellationen liegen ihre Schwachpunkte?
  • Wie könnte man diese Schwachpunkte beheben/mildern? Könnte man an anderer Stelle im Rechtssystem etwas ändern, um die Probleme zu vermeiden – ohne dass dadurch Folgeprobleme entstehen?
  • Gibt es Kombinationsmöglichkeiten der bisherigen Ansätze?
  • Welche der Probleme/Schwächen sind am ehesten hinnehmbar und warum?

Mit diesen und ähnlichen Fragen kann man sich einer eigenen Lösung nähern. Und genau aus diesen Fragen und ihren Antworten kann sich (siehe oben) eben auch das Neue der eigenen Arbeit ergeben, selbst wenn man sich im Ergebnis “nur” einer schon existierenden Lösung anschließt.

Um sich mit den Meinungen auseinanderzusetzen, kann es auch hilfreich sein, sie einmal stichpunktartig auf jeweils eigene Karteikarten zu schreiben und dann “physisch” mit ihnen zu arbeiten, indem man sie zum Beispiel in unterschiedlichen Gruppen zusammenlegt, nach Problemen ordnet oder als Mindmap auslegt. Theoretisch lässt sich das zwar auch digital machen, es kann aber den kreativen Prozess anregen, weg vom Bildschirm zu gehen und die Lösungsvorschläge wirklich in die Hand zu nehmen.

Tipp 4: Keine Angst vor “Wankelmut”

Der Wunsch, sich eine “feste Meinung” zu bilden, ist absolut nachvollziehbar. Es gehört aber zum ehrlichen wissenschaftlichen Prozess auch dazu, sich im Laufe der Zeit von besseren Argumenten überzeugen zu lassen. Es ist also keine Schwäche, sich im Laufe der Arbeit an einem Thema für eine andere Meinung zu entscheiden als anfangs. Wichtig für diesen Prozess ist meiner Meinung nach vor allem, dass man, wann immer Zweifel an der eigenen Meinung auftauchen, diese hinterfragt. Sind es wirklich neue Zweifel oder hat man sie zuvor schon mit guten Argumenten abgelehnt (und überzeugen diese Argumente immer noch)? Dass eine Lösung am Ende gewisse Punkte hat, an denen man sich auch anders entscheiden könnte, ist der Rechtswissenschaft inhärent. Wenn dem nicht so wäre, würde es sich in den meisten Fällen gar nicht lohnen, über genau dieses Thema zu promovieren. Wirklich entscheiden muss man sich erst, wenn man die Schriftfassung fertigstellt und abgibt. Erst dann muss die eigene Meinung fest sein – für den Moment und mit dem jetzt verfügbaren Wissen.