Bei manchen Promovierenden steht das Thema von Anfang an fest, sie machen am Anfang eine Gliederung und arbeiten diese ohne nennenswerte Änderungen ab, ihre anfangs aufgestellten Thesen ändern sich kaum noch. Und dann gibt es Promovierende, die im Laufe der Arbeit feststellen, dass andere Fragestellungen wichtiger sind, die ihre Gliederung mehrfach umstellen und am Ende mit etwas ganz anderem da stehen, als sie anfangs dachten.

Ich gehöre zur zweiten Gruppe und möchte mit diesem Beitrag Mut machen, dass es kein Problem sein muss, wenn sich das Thema (mehrfach) verändert. Im Gegenteil bin ich überzeugt davon, dass es mir und meiner Dissertation gut getan hat, dass ich mir erlaubt habe, die Fragestellung anzupassen und die Gliederung umzustellen – mehrfach. Das fertige Produkt hat nur noch wenig Ähnlichkeit damit, was ich mir anfangs vorgestellt habe, und das ist gut so.

Ausgangspunkt

Nachdem wir in einer Schwerpunktbereichsvorlesung mehrere Entscheidungen des EuGH zur Zuständigkeit am Erfüllungsort nach der Brüssel Ia-VO bei multinationalen Leistungen besprochen hatten, die er für Kaufverträge, Beförderungsverträge und Handelsvertreterverträge jeweils leicht unterschiedlich bestimmt, wollte ich diese Fragestellung in meiner Dissertation tiefgehend erörtern. Für mein Exposé habe ich mich mit dem Forschungsstand vertraut gemacht und festgestellt, dass es zwar einzelne Literatur zur Problematik gab, sich aber niemand tiefgehend nur damit beschäftigt hat. Meine Idee war, mir vergleichbare Probleme (ich nannte es das Problem der “Lokalisierungsvielfalt”) innerhalb der Brüssel Ia-VO anzuschauen und die Erkenntnisse daraus auf den Vertragsgerichtsstand zu übertragen. Der Titel meiner Dissertation sollte “Multiple Erfüllungsorte und internationale Zuständigkeit” lauten. Meine grobe Gliederung im Exposé sah dafür folgendermaßen aus:

  1. Der Erfüllungsortsgerichtsstand im Zuständigkeitssystem der Brüssel Ia-VO
    1. Die Brüssel Ia-Verordnung
    2. Der Gerichtsstand des Erfüllungsorts
    3. Zweck des Erfüllungsortsgerichtsstands
  2. Multinationale Leistungen in Art. 7 Nr. 1 lit. b) Brüssel Ia-VO
    1. Das Problem multipler Erfüllungsorte
    2. Fallgruppen multipler Erfüllungsorte
  3. Lokalisierungsvielfalt in der Brüssel Ia-VO
    1. Lokalisierungsvielfalt im Vertragsgerichtsstand
    2. Lokalisierungsvielfalt im Arbeitsgerichtsstand
    3. Lokalisierungsvielfalt im Deliktsgerichtsstand
    4. Parteibezogene Gerichtsstände
    5. Ausschließliche Gerichtsstände
    6. Gerichtsstände des Sachzusammenhangs
    7. Anderweitige Rechtshängigkeit
  4. Ergebnis/Folgerungen für den Vertragsgerichtsstand

Erste Veränderungen

Ich begann von vorne und arbeitete mich durch die Entstehungsgeschichte der Brüssel Ia-VO und des Erfüllungsortsgerichtsstands sowie dessen Zweck. Als ich diesen ersten Teil fertig hatte – etwa 8 Monate nach Fertigstellung des Exposés – gab ich ihn meinem Doktorvater zum Lesen. Während er las, machte ich mit den multinationalen Leistungen weiter, was durch meine Vorarbeit für das Exposé recht zügig ging. Dann kam der erste Dämpfer: mein Doktorvater erklärte mir, dass mein erster Teil zu lehrbuchartig sei und zu weit vom Thema weg. Er ermutigte mich, dass die Arbeit, die ich in diese Kapitel gesteckt hatte, sicher für mein eigenes Verständnis gut war, sie aber in der fertigen Dissertation allenfalls stark gekürzt Platz finden würden. Außerdem riet er mir, die folgenden Kapitel nicht sofort zu schreiben, sondern lieber erst einmal auszurecherchieren. Ich habe das nur zum Teil beherzigt, weil ich wusste, dass ich das Schreiben brauche, um meine eigenen Gedanken festzuhalten und zu sortieren. Aber ich überarbeitete die einzelnen Kapitel von da an nur noch ganz grob, statt sie weitgehend abgabefertig zu machen.

Im Laufe der Arbeit an Teil 3 merkte ich immer mehr, dass es für die Lösung des Problems auf die zugrundeliegenden Prinzipien ankam. Insbesondere war in der Literatur häufig die Rede von einem “Konzentrationsgedanken”, ohne dass schon genau analysiert worden wäre, was das eigentlich sein sollte. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt – anderthalb Jahre nach Fertigstellung des Exposés – hatte ich die Gelegenheit, bei einem Forschungsaufenthalt einen Vortrag über mein Thema zu halten, den ich an den einzelnen Prinzipien ausrichtete. Dabei spürte ich, dass diese Herangehensweise für mich sehr passend war. Von da an schrieb ich zwar weiter in der bisherigen Gliederung, denn um die verschiedenen Prinzipien und insbesondere das Prinzip der Konfliktkonzentration zu analysieren, schien es mir hilfreich, mich wie geplant durch die verschiedenen Gerichtsstände zu arbeiten. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war mir dabei aber klar, dass alles, was ich schrieb, vor allem eine Gedächtnisstütze für mich sein würde. Ich witzelte manchmal, dass ich mir “meinen persönlichen kleinen Brüssel Ia-VO-Kommentar” zusammenstellte, auf dessen Basis ich meine eigentliche Dissertation schreiben würde. Parallel dazu machte ich mir Gedanken zu einer neuen Gliederung für meine eigentliche Dissertation, die sich im Laufe meines zweiten Promotionsjahres immer weiter entwickelte und verfestigte.

Ein wenig später wurde mir zudem klar, dass ich das Problem von Lokalisierungsvielfalt nicht nur für den Erfüllungsortsgerichtsstand lösen wollte, sondern auch für Streudelikte im Deliktsgerichtsstand. Denn die parallele Problematik war sogar noch weniger geklärt als im Vertragsgerichtsstand und es erschien mir wenig sinnvoll, so ähnliche Probleme grundlegend unterschiedlich zu lösen, wie es der EuGH tat. Das bedeutete aber auch, dass ich für die Dissertation von Vornherein den Fokus weniger auf den Vertragsgerichtsstand legen und zugleich den Deliktsgerichtsstand beim Schreiben mehr in den Mittelpunkt rücken musste.

Der zweite Aufschlag

Recht genau zwei Jahre nach Fertigstellung des Exposés erarbeitete ich auf Basis meiner bisherigen Gedanken eine neue Gliederung für meine Dissertation, die vor allem auf einer Analyse der Prinzipien der Brüssel Ia-VO beruhte. Dafür hatte ich die bisher geschriebenen Kapitel, meinen “persönlichen Kommentar”, die zu diesem Zeitpunkt fast 400 Seiten ausgeschriebenen und mit Fußnoten versehenen Text umfassten, ausgedruckt, alles im Zusammenhang gelesen und mir die unterschiedlichen Prinzipien farblich markiert.

Meine Dissertation sollte nunmehr “Konfliktkonzentration und Lokalisierungsvielfalt in der Brüssel Ia-VO” heißen. Die Gliederung dafür sah folgendermaßen aus:

  1. Einleitung
  2. Lokalisierungsvielfalt in den Gerichtsständen der Brüssel Ia-VO
    1. Lokalisierungsvielfalt bei vertraglichen Streitigkeiten
    2. Lokalisierungsvielfalt im Deliktsgerichtsstand
  3. Lösungsmöglichkeiten für Lokalisierungsvielfalt
    1. Nicht-Anwendbarkeit
    2. Wahlrecht des Klägers
    3. Schwerpunktermittlung
    4. Mosaikbetrachtung
    5. Kombination von Mosaikbetrachtung und Schwerpunktermittlung
    6. Lokalisierungsvielfalt mit Drittstaatenbezug
    7. Die einheitliche Behandlung von Vertrags- und Deliktsgerichtsstand
  4. Herleitung und Bedeutung des Prinzips der Konfliktskonzentration
    1. Zum Begriff des Prinzips
    2. Erwägungsgründe und Ausgestaltung der Brüssel Ia-VO
    3. Konzentrationstendenzen in der Veränderung des europäischen Zuständigkeitsrechts
    4. Fazit
  5. Konfliktkonzentration im Gefüge der anderen Prinzipien der Brüssel Ia-VO
    1. Konfliktkonzentration und Zuständigkeitsgerechtigkeit
    2. Konfliktkonzentration und Rechtssicherheit
    3. Konfliktkonzentration und Streitnähe
  6. Beschränktes Klägerwahlrecht als Lösung für Lokalisierungsvielfalt
    1. Ablehnung der bisherigen Lösungen für Lokalisierungsvielfalt
    2. Beschränkte Eingrenzung von Gerichtsstandsvielfalt
    3. Anwendung rein quantitativer Kriterien
    4. Eingrenzung der Erfüllungsorte
    5. Eingrenzung der Erfolgsorte
    6. Eingrenzung der Zuständigkeit im Kartellrecht
    7. Ergebnis

Ich arbeitete mich innerhalb von 10 Monaten durch diese Gliederung, wobei ich nur wenig Text aus dem bisher Geschriebenen verarbeiten konnte. Aber da ich so gut wie nichts mehr recherchieren musste, fiel es mir leicht, den Text zu verfassen. Das letzte Kapitel – meine eigene Lösung – entwickelte sich erst im Laufe dieser Zeit. Die Dissertation mit obiger Gliederung gab ich fast punktgenau drei Jahre nach Beginn der Arbeit am Exposé bei meinem Doktorvater zur Vorabgabe ab.

Das Endprodukt

Mein Doktorvater las meine Dissertation dankenswerterweise innerhalb weniger Wochen. In einem langen Gespräch erklärte er mir, dass er zwar meinen Lösungsansatz interessant fand, aber die Dissertation als solche noch ausbaufähig war. Sie sei zu lang, teilweise redundant und in weiten Teilen zu darstellend. Er präsentierte mir einen groben Gliederungsvorschlag und erklärte mir, welche Änderungen er sich wünschte. Auf der Basis dieser Vorschläge erarbeitete ich erneut eine Gliederung, die wir in einem weiteren Gespräch finalisierten. Sie sah so aus:

  1. Konflikte mit mehrfachem Ortsbezug als Problem für die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit
  2. Das Prinzip der Konfliktkonzentration und die weiteren Prinzipien der Brüssel Ia-VO
    1. Zum Begriff des Prinzips
    2. Das Prinzip der Konfliktkonzentration
    3. Das Prinzip der Zuständigkeitsgerechtigkeit
    4. Das Prinzip der Rechtssicherheit
    5. Das Prinzip der Streitnähe
    6. Das Verhältnis der Prinzipien zueinander
  3. Defizite bisheriger Lösungsansätze
    1. Mosaikbetrachtung
    2. Schwerpunktermittlung
    3. Kombination von Mosaikbetrachtung mit Schwerpunktermittlung
    4. Weitere vorgeschlagene Lösungsmöglichkeiten
  4. Begrenztes Klägerwahlrecht bei mehrfachem Ortsbezug
    1. Begrenzung des Klägerwahlrechts auf nicht-unwesentliche Gerichtsstände
    2. Das begrenzte Klägerwahlrecht als die beste Lösung
    3. Delikte mit mehrfachem Ortsbezug
    4. Verträge mit mehrfachem Ortsbezug

Dieses Mal konnte ich große Textabschnitte verschieben und wiederverwerten, vieles musste ich aber auch neu schreiben und umschreiben. Insbesondere führte die neue Gliederung dazu, dass ich die Arbeit wieder mehr auf das zentrale Problem fokussierte und Erkenntnisse der Analyse der Prinzipien direkt im Rahmen der Diskussion der Lösungsansätze verarbeitete. Es dauerte ein knappes halbes Jahr, bis ich die Dissertation erneut vorabgab. Die Dissertation ist jetzt – mit Änderungen im Detail – mit obiger Gliederung unter dem Titel “Das Prinzip der Konfliktkonzentration in der Brüssel Ia-VO” erschienen. Bei Interesse könnt ihr euch das detaillierte Inhaltsverzeichnis auf der Verlagshomepage ansehen.

Fazit

Ich bin überzeugt, dass ich am Ende die bestmögliche Version meiner Dissertation veröffentlichen konnte. Es war gut, dass sich meine Gliederung und auch der Zuschnitt meines Themas mehrfach verändert hat. Ich habe in jedem einzelnen Arbeitsschritt viel gelernt – über die Brüssel Ia-VO, über Wissenschaft, über meine eigene Arbeitsweise. Und ich bin sehr stolz auf das Endprodukt.

Aber der Weg dahin war nicht immer leicht. Manchmal war es frustrierend, Text zu produzieren, von dem ich schon beim Schreiben wusste, dass er es nicht in die fertige Dissertation schaffen würde. Dass ich in der Folge “den zweiten Aufschlag” innerhalb von weniger als einem Jahr schreiben musste – der Beginn meines Referendariats war für mich ein fixer Abgabezeitpunkt -, hat mich oft gestresst. Das Feedback meines Doktorvaters nach der Vorabgabe – so berechtigt und konstruktiv es war und so dankbar ich heute dafür bin – hat mich damals völlig unvorbereitet erwischt und fühlte sich nach einem echten Rückschlag an, den ich erst einmal verarbeiten musste.

Wenn es euch genauso geht: denkt daran, dass aus solchen Rückschlägen etwas Gutes entstehen kann. Manchmal muss ein Thema reifen, damit man den richtigen Zugriff, die richtige Gliederung, die richtige Lösung findet. Manchmal braucht es mehrere Anläufe. Wichtig ist, sich davon nicht entmutigen zu lassen.