Ziel der Promotionszeit ist es, eine Dissertation anzufertigen und damit den Doktortitel zu erlangen. Während man recherchiert, Text verfasst und überarbeitet, erlernt und verbessert man aber auch eine ganze Menge an Fähigkeiten, die gar nichts direkt mit dem eigenen wissenschaftlichen Thema zu tun haben. Diese Fähigkeiten sind nicht nur relevant, wenn man anschließend in der Wissenschaft bleiben möchte, sondern in den meisten juristischen Berufen hilfreich. Genau diese Fähigkeiten sind ein Teil des Grundes – wenn nicht sogar der wichtigste Grund – weshalb promovierte Jurist*innen auf dem Arbeitsmarkt unabhängig vom konkreten Thema einen Vorteil haben. Auch als promovierende oder promovierte Person ist es gut, sich einmal gedanklich damit zu beschäftigen, welche Fähigkeiten der Doktortitel transportiert, um diese zum Beispiel im Anschreiben oder Vorstellungsgespräch zu betonen. Wer sich gerade mit der Entscheidung beschäftigt, ob eine Promotion ein guter nächstes Schritt ist, kann sich vor Augen führen, dass diese Fähigkeiten den Berufsalltag ebenso wie zum Beispiel das Referendariat erheblich erleichtern können.
Bei kaum einer Tätigkeit setzt man sich so intensiv mit einem einzigen Problem, einer einzigen Fragestellung oder einem einzigen Themenkomplex auseinander wie während der Arbeit an einer Dissertation. Deshalb ist diese auch der perfekte Ort, um das juristische Handwerk und alles, was damit zusammenhängt, ausführlich zu üben.
Das beginnt bereits bei der Recherche. Im Laufe der Promotionszeit lernt man nicht nur die unterschiedlichen Kommentare, Handbücher, Zeitschriften und Monografien kennen, die im jeweiligen Rechtsgebiet wichtig sind, sondern trainiert auch, Quellen schnell grob zu erfassen und auszuwerten, ob es sich lohnt, an dieser Stelle tiefer in die Recherche einzusteigen. Dabei wird auch die Fähigkeit, schnell zu lesen, geübt. Wer einmal ganz tief in die Recherche zu einer schwierigen Frage versunken ist, entwickelt außerdem Tricks, um auch versteckte Quellen zu entdecken. Außerdem ist es notwendig, sich ein vernünftiges System für die Organisation von Recherchematerial und Notizen zu schaffen, das man später dann auch – eventuell in abgewandelter Form – zum Beispiel beim Recherchieren für einen größeren Schriftsatz oder ein Urteil nutzen kann. Auch das ordentliche Erstellen von Fußnoten (oder anderen Quellenapparaten) ist eine wichtige Fähigkeit für viele juristische Berufe.
Noch vor dem Verfassen des Texts muss man sich eine Struktur überlegen, in der man das Thema angehen kann. Zwar ist in vielen juristischen Berufen eine gewisse Struktur vorgegeben, etwa durch die klassische Prüfungsreihenfolge, sodass diese Fähigkeit häufig nicht mehr ganz so dringend benötigt wird. Andererseits ist es auch innerhalb der einzelnen, vorgegebenen Abschnitte eines Schriftsatzes wichtig, Argumente und Gedankengänge strukturiert darzustellen. Eng verknüpft mit einer Struktur ist die Fähigkeit, klar und verständlich zu formulieren, damit das Gegenüber – sei es der eigene Mandant oder dessen Geschäftspartnerin, sei es die Anwältin oder der Richter – die Argumente nachvollziehen und bewerten kann. Zum Verfassen des Texts gehört es auch, diesen vernünftig zu formatieren, zB mit MS Word. Grundfähigkeiten (und ein paar Tricks darüber hinaus) im Umgang mit MS Word sind in den meisten juristischen Berufen ein echter Vorteil. Außerdem muss man den geschriebenen Text auch – in der Regel mehrfach – überarbeiten, umstellen und korrigieren, was in jedem Beruf hilfreich ist, bei dem Text produziert wird.
Bei der Argumentation als solches nutzt man in der Dissertation ebenso wie in anderen juristischen Berufen die klassischen Auslegungsmethoden. Aber im Gegensatz zum Berufsalltag hat man während der Promotion viel mehr Zeit, sich wirklich mit allen Facetten des Wortlauts, den Details der Entstehungsgeschichte, dem systematischen Zusammenhang und dem Sinn und Zweck auseinanderzusetzen. Dabei lernt man natürlich viel über den Gegenstand der eigenen Arbeit, die intensive Beschäftigung mit den Auslegungsmethoden schult aber auch den Blick für die Anwendung auf andere Normen und Fragestellungen. Um eigene Argumente und Thesen zu entwickeln, braucht man auch viel Kreativität.
Gleichzeitig lernt man auch, Argumente, die von verschiedenen Seiten vorgetragen werden, kritisch zu hinterfragen, zu durchdenken und zu bewerten. Diese Fähigkeit ist naturgemäß für Richter*innen von besonderer Bedeutung. Aber auch Anwält*innen müssen selbstverständlich die Überzeugungskraft von eigenen und fremden Argumenten bewerten, etwa um die Stärke der eigenen Position abzuschätzen, die richtigen Argumente auszuwählen und die Schwächen der gegnerischen Argumentation aufzuzeigen.
Neben diesen im Kern juristischen Fähigkeiten lernt und übt man aber auch Vieles rund um das Arbeiten herum. Das beginnt damit, dass die Dissertation ihrer Natur nach ein auf längere Zeit angelegtes Projekt ist. Wenn man erfolgreich promoviert hat, zeigt das, dass man in der Lage ist, ein großes Projekt zu planen und umzusetzen. Das belegt einerseits Organisationsfähigkeit, andererseits auch Durchhaltevermögen. Es verlangt eine Menge Disziplin, eigenverantwortlich ein Projekt voranzutreiben, auch wenn dieses scheinbar stagniert und das Ende noch in weiter Ferne ist. Dadurch schult man auch die Frustrationstoleranz. Viele Doktorand*innen entwickeln mit der Zeit eigene Systeme, um sich zu motivieren, weiterzumachen, und lernen viel über die eigene Arbeitsweise und sie diese optimieren können. Schließlich gehört es auch zur Promotionszeit, dass man lernt, mit Feedback umzugehen, dieses einzuordnen und umzusetzen – eine Fähigkeit, die gerade bei Berufseinstieg in allen Branchen sehr wertvoll ist.
Natürlich haben nicht alle Promovierte alle diese Fähigkeiten im selben Maß. Mit welchen Auslegungsmethoden man sich am intensivsten befasst, hängt vom eigenen Thema ab. Ob es schwieriger ist, passende Quellen zu finden, oder aus einer großen Menge die relevanten herauszufiltern, ist je nach Fragestellung unterschiedlich. Und wie eigenverantwortlich oder fremdbestimmt das Projekt Dissertation durchgeführt wird, liegt auch am Betreuungsstil des Doktorvaters oder der Doktormutter. Im Großen und Ganzen sollte aber jede*r promovierte Jurist*in die hier aufgeführten Fähigkeiten auf die eine oder andere Weise bereits mitbringen oder sich angeeignet haben. Und das sind gute Gründe, zu promovieren und promovierte Jurist*innen einzustellen.